Position
Berlin – 25. September 2020
In immer mehr Städten wird das Auto aus der Innenstadt zumindest teil- und zeitweise verdrängt. Bis vor kurzem schien das noch undenkbar! Gleichwohl: Das konsequente Umdenken für die Mobilitätswende ist bisher in der Politik und der Gesellschaft kaum in den Köpfen angekommen.
Wenn in Deutschland Straßen zu Fußgängerzonen umfunktioniert werden, regt sich dort fast überall der Protest der Einzelhändler. Sie können sich nicht vorstellen, dass keine Autos und keine Parkplätze vor dem Laden gut für das Geschäft sein sollen. Jüngstes Beispiel ist die Düsseldorfer Luxus-Einkaufs-Meile Königsallee. Es werde immer nur beklagt, was wegfällt, moniert im Internet die Plattform „Zukunft des Einkaufens”: nämlich die Parkplätze. Dass eine autofreie Einkaufsmeile mehr Aufenthaltsqualität und eine hohen Wohlfühlfaktor verheiße, gehe dabei unter. Deshalb solle man diesen Aspekt in den Diskussionen betonen: Es gehe um den Menschen im Erlebnisraum Innenstadt.
Flanieren statt Vorfahren
Vielerorts lockt inzwischen der Bummel über zu Flaniermeilen umfunktionierte Stadtstraßen und durch Altstadt-Gässchen. Prominentes Beispiel: 500 Meter der Friedrichstraße in Berlin, jenes über drei Kilometer langen Nord-Süd-Boulevards im einstigen Ost-Stadtteil Mitte, der es nach dem Mauerfall mit am schnellsten schaffte, eine schicke Adresse zu werden. Die autofreie Zone ist erst einmal für ein paar Testmonate eingerichtet – und kommt Medienberichten zufolge gut an. Doch für die meisten Besucher endet der Bummel am Parkplatz um die Ecke, am eigenen Auto. Dabei ist kaum ein Ort besser mit Bus und Bahn versorgt, wie hier.
Weniger Autoblech besser kanalisieren
Auch wenn dieses Auto in wenigen Jahren klimafreundlich fährt, ist das für einen Neustart der Mobilität schlicht zu wenig. Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, hat es kürzlich in einem Interview klar formuliert: Es sei noch keine Verkehrswende, wenn wir jeden Verbrenner durch ein E-Auto ersetzen. Diese Wende muss mehr erreichen als abgasfreie Autos. Genauso wichtig wird es, die massenhafte Motorisierung vernünftig zu kanalisieren. Schluss mit dem quälenden Stop and Go, mit Stau-Warnungen im Radio und vom Autoblech verstopften Innenstädten. Auch saubere Autos brauchen Platz, viel Platz. Erst weniger Autos verheißen Lebensqualität durch weniger Verkehr und weniger Lärm – und das nicht nur in Flaniermeilen.
Öffentlichen Raum anders aufteilen
So geht es bei der Mobilitätswende auch um eine Neuaufteilung des öffentlichen Raums, stellt eine aktuelle Studie der Denkfabrik Agora Verkehrswende fest: mehr Platz für Fußgänger und Fahrrad, mehr Angebote von Bus und Bahn. Fünf Institutionen – darunter der VDV als Branchenverband –, die sich seit langem mit klimagerechter Mobilität beschäftigen, stehen hinter dem Papier. Sie fordern eine breit angelegte Reform- und Investitions-Offensive, mehr Innovation, mehr Personal und mehr Finanzmittel.
Selbstverständlich umsteigen
Wie wichtig es ist, die Mobilitätswende mit Nachdruck voranzutreiben, zeigt eine weitere Studie, die der Motor Presse-Verlag unlängst publiziert hat. Der Titel spricht Bände: „Mythos Mobilität – die Disruption steht noch bevor”. Die Untersuchung macht deutlich: Für Klimaschutz sind wir fast alle, aber auf das lieb gewonnene Auto wollen die wenigsten verzichten. Speziell Berufspendler rechnen schnell vor, dass die Vorteile des eigenen Fahrzeugs gegenüber dem ÖPNV deutlich überwiegen, insbesondere in puncto Komfort und täglicher Reisezeit. Daraus kann an die Adresse der Politik, gerade in den Kommunen, nur der Appell folgen: Es muss viel geschehen, damit der Umweltverbund von Fußgängern und Radfahrern innerhalb eines vielseitigen, attraktiven Systems von Bussen und Bahnen – verbunden mit neuen Mobilitätsformen vom Car Sharing bis zum autonom fahrenden Minibus mit wachsender Selbstverständlichkeit zum Umsteigen lockt. Erst dann kann es ein Umdenken in der Mehrheit der Köpfe geben, erst dann wird die Mobilitätswende realistisch.
ÜBER DEN AUTOR
Eberhard Krummheuer fährt seit Kindesbeinen mit Bussen und Bahnen. Erst mangels Familienauto, dann trotz Familienauto. Der öffentliche Verkehr beschäftigt ihn sein Berufsleben lang als Journalist, viele Jahre als Redakteur der Wirtschaftszeitung „Handelsblatt”. Nun kommentiert er für Deutschland mobil 2030 aktuelle Entwicklungen in Sachen Mobilität und Logistik.
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