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Berlin – 30. Juni 2022
Die Idee vom fahrerlosen „autonomen Fahren” fasziniert seit Jahren. Der Individualverkehr ist davon noch meilenweit entfernt. Aber der öffentliche Verkehr kann jetzt in die Vorreiterrolle schlüpfen: Eine Rechtsverordnung des Bundes schafft die Voraussetzungen.
Deutschlands angeschlagener Ruf als Entwickler von Zukunftstechnologien hat Aussichten auf neuen Glanz. Zwar wird zum autonomen Fahren weltweit experimentiert, aber weder in der EU noch beispielsweise in den USA ist die Technologie so weit, dass ein in jeder Hinsicht sicherer Betrieb von Fahrzeugen ohne Fahrer und ohne Lenkrad rechtsverbindlich geregelt ist. Die Verordnung des Bundesverkehrsministeriums als Ergänzung zum bestehenden Straßenverkehrsrecht signalisiert nicht mehr und nicht weniger als den Aufbruch aus Experimentierphasen in den Alltag automatischer Mobilität auf der Straße, der bei uns jetzt möglich wird.
Der Rechtsrahmen erlaubt den Regelbetrieb nach der internationalen Klassifizierungsstufe „Level 4” für öffentlichen Verkehr in festgelegten Betriebsbereichen. Das können Linien wie bei Bus und Bahn sein, aber auch die Bedienung – überschaubarer – Viertel und Straßenzüge. Die Verkehrsunternehmen hierzulande haben die große Chance, dabei zu sein. Denn autonomes Fahren macht es möglich, per Taxi und Shuttle-Verkehren entweder „on demand” auf Bestellung oder auf einer Linie das ÖPNV-Angebot deutlich und gezielt auf Nachfrage auszuweiten. Wo kein Fahrer mehr eingesetzt werden muss, spielen Personalkosten nur noch eine geringere Rolle. Das kann zum wesentlichen Beitrag der Mobilitätswende werden, nicht nur in stilleren Stadtteilen, sondern vor allem auch in ländlichen Regionen, wo 40 Prozent der Bevölkerung leben – und mit zunehmendem Alter gern aufs Auto verzichten würden.
VDV-Branchenumfrage 2022: Hochlauf der On-Demand-Verkehre im ÖPNV
Allerdings müssen die Verkehrsunternehmen die Herausforderung annehmen. Denn der Nahverkehrsmarkt lockt auch andere Player. Allen voran die Automobilindustrie, die mit der Entwicklung von fahrerlosen „Robotaxis” durchaus die Chance hat, Bussen und Bahnen die Kunden abspenstig zu machen. Eine fatale Geschichte: Denn Robotaxis könnten schnell zu Rosinenpickern werden. Rechnen wird sich ein solches Angebot vermutlich nur in großen Städten mit geballter Nachfrage auf relativ kurzen Strecken; Außenbezirke und erst recht das flache Land blieben außen vor. Daseinsvorsorge sieht anders aus!
Konstruktiver wird die Situation, wenn automatische Verkehrsdienste als Ergänzung zu Bussen und Bahnen unterwegs sind und gezielt die Liniennetze ergänzen – gesteuert und überwacht von den Leitstellen der Betriebe. Auch dafür gibt es Ansätze zwischen der Industrie und den Verkehrsunternehmen zu Partnerschaften im Interesse der Fahrgäste. Der autonome ÖPNV braucht sinnvollerweise stets das vorhandene Verkehrsnetz als Rückgrat und hat zur Aufgabe, dieses zu verdichten oder zu ergänzen. Wie vielfältig diese Aufgabe ist, machte kürzlich der 6. Zukunftskongress des VDV in München deutlich.
Nahezu überall im Land gibt es konkrete Pläne für automatische Verkehre. Mit ihrer Realisierung wird die Pionier-Phase der Minishuttles, die in vielen Versuchsbetrieben etwas unbeholfen wirkend mit zehn, fünfzehn Stundenkilometern unterwegs sind, zu Ende gehen müssen. Die Branche braucht Fahrzeuge, die stark genug elektromotorisiert sind, um im Stadtverkehr mit entsprechendem Tempo mitzuschwimmen. Und sie braucht keine Sechssitzer, sondern größere busähnliche Gefäße, die auch schon mal 20 Fahrgäste und mehr mitnehmen können. Doch mit zunehmender Ungeduld wird in den Verkehrsunternehmen beobachtet, dass die klassische Autoindustrie sich schwertut, solche Fahrzeuge zu entwickeln.
Alles schon mal da gewesen: Als in aller Welt die Entwicklung von Batterie-Elektrobussen vorangetrieben wurde, hielten sich die deutschen Bus-Hersteller auch lange Zeit vornehm zurück. Aber es gibt ja auch Newcomer aus anderen Industrien, die mit Shuttle-Fahrzeugen und der aufwändigen Systemtechnik für den sicheren Verkehr auf der Straße mutig und einfallsreich die Richtung vorgeben. Es geht um Verkehrssicherheit, Abbau von Emissionen im Verkehr – und nicht zuletzt um die Qualitäten des Wirtschafts- und Innovationsstandortes Deutschland.
ÜBER DEN AUTOR
Eberhard Krummheuer fährt seit Kindesbeinen mit Bussen und Bahnen. Erst mangels Familienauto, dann trotz Familienauto. Der öffentliche Verkehr beschäftigt ihn sein Berufsleben lang als Journalist, viele Jahre als Redakteur der Wirtschaftszeitung „Handelsblatt”. Nun kommentiert er für Deutschland mobil 2030 aktuelle Entwicklungen in Sachen Mobilität und Logistik.
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