Future
Berlin – 12. Juni 2020
Wie hat sich der öffentliche Verkehr bislang während der Krise geschlagen? Wie sehen die finanziellen Auswirkungen aus? Und: Wie schaut die Zukunft der Mobilität nach Corona aus? Das waren zentrale Fragen, denen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines prominent besetzten runden Tisches stellten, zu dem die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Rahmen der Initiative „Deutschland mobil 2030“ eingeladen hatte.
Per Videokonferenz diskutierten die Verkehrsministerin des Saarlandes und Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz, Anke Rehlinger, die Verkehrsminister aus Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg, Henrik Wüst und Winfried Hermann, Wiesbadens Oberbürgermeister Gerd-Uwe Mende sowie die Branchenvertreter Ingo Wortmann, Präsident des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen und Vorsitzender der Geschäftsführung der Münchner Verkehrsgesellschaft, Dr. Jörg Sandvoß, Vorstandsvorsitzender der DB Regio AG, Stefanie Haaks, Vorstandsvorsitzende der Kölner Verkehrs-Betriebe und Prof. Knut Ringat, Sprecher der Geschäftsführung des Rhein-Main Verkehrsverbundes, Mitte Juni am „Runden Tisch“ der F.A.Z.
Hintergrund: Der durch die Corona-Pandemie bedingte Lockdown hat zu einem weitgehenden Stillstand des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens in Deutschland geführt. Dennoch haben die Verkehrsunternehmen in dieser schwierigen Situation nahezu 80 Prozent ihres Bus- und Bahnangebotes aufrechterhalten, um vor allem die Mobilität von Menschen in systemrelevanten Berufen und die Mindestabstände in den Fahrzeugen sicherzustellen. Gleichzeitig sind die Fahrgastzahlen drastisch eingebrochen, nach Einschätzungen des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) lag das Fahrgastaufkommen in der Zeit von Ende März bis Ende April im Durchschnitt bei nur noch 20 bis 25 Prozent. Inzwischen sind durch die fortschreitende Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen die Fahrgastzahlen zwar wieder auf etwa 40 Prozent des Vorkrisenniveaus gestiegen. Die erlittenen Einnahmeverluste sind für die Unternehmen sowie Städte und Kommunen als Aufgabenträger jedoch immens. Nach Berechnungen des VDV belaufen sie sich auf rund fünf Milliarden Euro bis zum Jahresende. Aus der Sicht der Kommunen stellte Gerd-Uwe Mende, Oberbürgermeister der Stadt Wiesbaden und Mitglied des Präsidiums des Hessischen Städtetages, fest, dass die Finanzierung des ÖPNV als Teil der kommunalen Daseinsvorsorge mit Blick auf die Corona bedingten Einnahmeausfälle in diesem Jahr eine zusätzliche Belastung für den Haushalt darstellt. Doch die Verkehrsunternehmen selber konnten während der Krise kaum Einsparungen realisieren, da sie – politisch gewünscht – im Schnitt 80 Prozent ihres regulären Angebots aufrechterhalten haben. „Was wir tatsächlich einsparen konnten, war eher gering. Wenn man den Fahrplan kaum ausdünnt und auch die Fahrerinnen und Fahrer nicht in Kurzarbeit schickt, weil man auch in der Hochphase des Lockdowns mindestens 80 und inzwischen wieder 100 Prozent der Leistung fährt, dann spart man höchstens ein bisschen Diesel und Strom. Im Verhältnis zu den erlittenen Einnahmeverlusten sind das allerdings marginale Beträge“, unterstrich Ingo Wortmann.
Finanzielle Hilfe
Große Hoffnungen setzt die Branche daher auf den von der Bundesregierung Anfang Juni beschlossenen Rettungsschirm, an dem sich der Bund mit 2,5 Milliarden Euro beteiligt. Weitere 50 Prozent sollen über die Länder finanziert werden. Zu den Vorreitern zählt hier Baden-Württemberg. „Wir haben uns sehr früh mit den Unternehmen, mit den Verbünden und der Landesgruppe des VDV zusammengesetzt und haben die Einnahmeausfälle angeschaut“, berichtet Winfried Hermann, Baden-Württembergs Verkehrsminister. 480 Millionen Euro hat man für Baden-Württemberg errechnet. Die Hälfte davon will laut Hermann das Land übernehmen. Ob am Ende alle Länder mitziehen werden, konnte Anke Rehlinger als Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz noch nicht abschließend sagen. Aber: „Es haben sich schon einige Länder auf den Weg gemacht. Darunter auch mein eigenes Bundesland, das Saarland.“ Sie wolle auf der nächsten Verkehrsministerkonferenz für einen Beschluss zur Selbstverpflichtung der Länder werben. Wenn man sich schnell einige, so Rehlinger, könnten schon ab Mitte Juli die Gelder an die Branche weitergereicht werden, wenn das Gesetzgebungsverfahren und die Notifizierung der Förderrichtlinie bei der EU wie derzeit vorgesehen durchlaufen.
Aufklärung nötig
Neben den wirtschaftlichen Auswirkungen beschäftigt die Branche derzeit auch eine handfeste Vertrauenskrise. Viele Fahrgäste meiden Busse und Bahnen, weil sie befürchten, sich dort vermeintlich einem höheren Infektionsrisiko auszusetzen. „Dabei gibt es keine wirklichen Hinweise auf Ansteckungsketten durch den ÖPNV“, berichtet Prof. Knut Ringat. Und Ingo Wortmann versichert: „Wenn man sich an die bekannten Verhaltensregeln hält, dann ist der ÖPNV sicher.“ Damit das so bleibt, nehmen die Unternehmen große Anstrengungen auf sich. Die Bandbreite reicht hier von Verteilungsaktionen von Masken wie sie etwa vom Rhein-Main Verkehrsverbund praktiziert wird über höhere Reinigungsintervalle von Fahrzeugen bis zu umfangreichen Schutzmaßnahmen auch für die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ab dem Sommer wollen die Verkehrsunternehmen zusammen mit den Ländern und dem Bund im Rahmen der VDV-Kampagne #BesserWeiter aufklären und verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen. Während in der ersten Phase für Vertrauen geworben wird, soll die zweite Phase die Kundenrückgewinnung in den Fokus rücken.
Drohen Themen wie Klimawandel und Verkehrswende angesichts der Coronakrise unterzugehen? Auch das war eine Frage, die diskutiert wurde. NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst sieht diese Gefahr nicht unmittelbar. Dennoch: „Ich werbe trotzdem dafür, dass wir das Thema Mobilität gleichrangig diskutieren wie etwa Bildung oder Gesundheit als eines der wesentlichen Zukunftsthemen, in das man investieren muss.“ Dass die Verkehrswende nicht unter den Tisch fallen dürfe, darüber waren sich am Ende alle einig. Um mehr Menschen für eine nachhaltige Mobilität zu gewinnen, setzten die Teilnehmenden vor allem auf Aspekte wie mehr Kapazitäten und Angebot, die Vernetzung von unterschiedlichen Verkehrsträgern und eine Erhöhung der Qualität. „Ursächlich für die Wahl des Verkehrsmittels ist die Qualität“, zeigte sich zum Beispiel Stefanie Haaks überzeugt. Dazu gehört eine neue andere Sauberkeit. Bisher war Sauberkeit auch schon ein Qualitätskriterium, aber da wird jetzt vom Kunden etwas anderes gefordert. Mehr Flexibilität und Digitalisierung waren in diesem Kontext weitere zentrale Stichworte.
Schließlich wurden neben den zahlreichen Herausforderungen der Coronakrise auch mögliche Chancen in den Blick genommen. „Ich bin mir sicher, dass wir nach Corona und mit Corona zum Beispiel das Thema Digitalisierung noch einmal neu entdeckt haben und dass es einen unheimlichen Schub geben wird für Themen, die branchenübergreifend relevant sind“, erklärte etwa Prof. Knut Ringat. „Wir haben alle in der Branche gelernt, dass wir stabil waren und dass wir als Stabilitätsanker für die Republik ein ganz wichtiges Element gewesen sind“, dieses positive Fazit zog Dr. Jörg Sandvoß aus den Erfahrungen der vergangenen Monate.
Am runden Tisch haben teilgenommen:
- Anke Rehlinger, Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz und Verkehrsministerin des Saarlandes
- Hendrik Wüst, Minister für Verkehr von Nordrhein-Westfalen
- Winfried Hermann, Minister für Verkehr von Baden-Württemberg
- Gerd-Uwe Mende, Oberbürgermeister der Stadt Wiesbaden und Präsidiumsmitglied des Hessischen Städtetages
- Ingo Wortmann, Präsident des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen und Vorsitzender der Geschäftsführung der Münchner Verkehrsgesellschaft
- Dr. Jörg Sandvoß, Vorstandvorsitzender DB Regio
- Prof. Knut Ringat, Sprecher der Geschäftsführung des Rhein-Main-Verkehrsverbundes
- Stefanie Haaks, Vorsitzende des Vorstandes der Kölner Verkehrs-Betriebe
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